Annette Hillebrandt

Architektin und Professorin für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde an der Bergischen Universität Wuppertal

„Wir müssen die Dinge zu Ende denken!“

Annette Hillebrandt, Jahrgang 1963, ist selbstständige Architektin und Professorin für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde an der Bergischen Universität Wuppertal. In Forschung, Lehre und Praxis setzt sie sich konsequent für nachhaltiges Bauen ein. 

 

Mit ihrem Wissen über Ressourcen-Schonung, Abfallvermeidung und Recycling unterstützt Annette verschiedene Initiativen wie Architects for Future, Urban-Mining-Design oder Das Bauhaus der Erde. Ehrenamtlich berät sie auch das Umweltbundesamt als Mitglied der Kommission Nachhaltiges Bauen.

 

Architekt:innen sollten ihren Beruf lieben – nicht allein ihre gestalterische Rolle, sondern den Blick auf künftige Generationen, appelliert sie im F!F-Interview. 

Annette Hillebrandt, Architektin und Professorin 


F!F: Viele Immobilienunternehmen geben an, nachhaltig zu bauen. Wie ist die eigentliche Definition?

 

Annette Hillebrandt: Der Begriff Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft, von Carl von Carlowitz. Er formulierte Anfang des 18. Jahrhunderts, dass im Wald nur so viel Holz geschlagen werden sollte, wie durch Aufforsten wieder nachwächst. Bis heute ist Nachhaltigkeit so definiert: Nicht mehr natürliche Ressourcen ausrauben, als nachwachsen! Damit die folgenden Generationen noch genauso viel zur Verfügung haben wie wir – frische Luft, frisches Wasser, Biodiversität, Materialien. 

 

F!F: Was trennt die Baubranche von dieser Nachhaltigkeit?

 

Annette Hillebrandt: Vor allem der schlimme CO2-Fußabdruck, den Bauen, Wohnen, Leben mit Gebäuden verursacht, nämlich 40 Prozent der CO2-Emissionen weltweit. Hierzulande kommen etwa 55 Prozent aller Abfälle aus dem Bauwesen, und 90 Prozent aller inländischen Rohstoffentnahmen wandern ins Bauwesen. Dabei zeigt die Statistik auch, dass die EU-Länder nur neun Prozent der Rohstoffe aus eigenen Quellen decken können. Alles andere stammt von außerhalb. Das heißt, wir entwickeln unseren Wohlstand auf Kosten anderer Länder, vornehmlich der Südhalbkugel.

 

F!F: Wie sieht nachhaltiges Bauen im Umkehrschluss aus? 

 

Annette Hillebrandt: In erster Linie schadstofffrei. Schadstoffe in Baumaterialien führen immer dazu, dass eine spätere Wiederverwendung oder Wiederverwertung nicht möglich ist. Beispiel das jahrzehntelang eingesetzte Asbest, das heute immense Rückbaukosten verursacht. Wenn nun weiterhin Schadstoffe eingebaut werden, dann wieder zu Lasten der nächsten Generationen. 

 

Zweitens: aus nachwachsenden Rohstoffen und recyclingfähig bauen. Recyclingfähig heißt, wir müssen in geschlossenen Kreisläufen denken. Ein nachwachsendes Material kommt nur dann in einen natürlichen Kreislauf zurück, wenn man es am Ende kompostieren kann. Das geht aber nur, wenn ich nachwachsende Rohstoffe mit biologisch abbaubaren Materialien kombiniere – und nicht mit fossilen Materialien kontaminiere. Das passiert jedoch häufig, zum Beispiel mit Kunststoff als Bindemittel in Holzfaserdämmplatten.

 

Als drittes ist neben dem geschlossenen biologischen Kreislauf der geschlossene technische Kreislauf wichtig. Der funktioniert zum Beispiel sehr gut mit Stahl. Stahl ist voll recyclingfähig.

 

„Wenn man etwas abreißt, hat der CO2-Rucksack der bestehenden Konstruktion umsonst unser Klima erwärmt. Und die Neubaukonstruktion belastet wieder unser verbleibendes Restbudget an CO2.

 

F!F: Zurzeit wird gerade mal ein Prozent der verbauten Materialien wieder verwendet. Könnte man sich nicht mehr aus den urbanen Rohstofflagern bedienen? Also Stadtschürfung, neudeutsch Urban Mining, betreiben? 

 

Annette Hillebrandt: Nein, wir haben in den letzten Jahrzehnten gar nicht so gebaut, als dass das in unseren Gebäuden viele Werte lagern würden. Ein Gründerzeithaus zum Beispiel, noch aus Ziegeln und Holz gebaut, lässt sich recht einfach zurückbauen und verursacht bei der Entsorgung keine zu hohen Kosten. Wenn man aber einen Betonbau abreißt, der mit Styropor gedämmt wurde, mit kunststoffvergüteten mineralischen Putzen verputzt und mit Kunstharz angestrichen wurde, dann sieht das ganz anders aus. Diese Materialien kriegt man nicht auseinander. Man hat buchstäblich Müll gebaut, da werden Rückbau und Entsorgung teuer.

 

Will man eine urbane Mine anlegen, muss man wie gesagt aus nachwachsenden, naturbelassenen Rohstoffen bauen. Am besten kombiniert mit Metallen. Wenn man die verbaut, hat man am Ende statt Entsorgungsgebühren eine Geld-zurück-Garantie.

 

F!F: Die bessere Alternative zu Abriss und Neubau ist, Baubestand weiter zu nutzen.

 

Annette Hillebrandt: Richtig, denn wenn man etwas abreißt, hat der CO2-Rucksack der bestehenden Konstruktion umsonst unser Klima erwärmt. Und die Neubaukonstruktion belastet wieder unser verbleibendes Restbudget an CO2. Bestand zu erhalten und zu ertüchtigen ist kompliziert. Viele Architekt:innen mögen es daher nicht so richtig – man verdient sein Geld nicht so einfach. Aber das ist ein ganz wichtiger Hebel zur Ressourcen-Schonung und Abfallvermeidung. 

 

F!F: Genügen die ESG-Richtlinien, also ökologische und soziale Anforderungen an die Immobilienbranche, um nachhaltiges Bauen ganz nach vorne zu bringen? 

 

Annette Hillebrandt: Sie sind auf jeden Fall ein Anfang. Auch das Ziel der EU-Taxonomie, das umweltgerechtere Bauen zu fördern, ist richtig. Wir brauchen aber eine eindeutige Sprache, klare Definitionen, um unterscheiden zu können: Was ist wirklich „grün“ und was ist „Greenwashing“? 

 

Zum Beispiel ist häufig von Recycling die Rede, wenn es sich lediglich um Downcycling handelt. Das ist ein Riesenunterschied. Wenn ich eine Ziegelvormauer-Schale zurückbaue und die Ziegel in den Container werfe, kann man aus diesem Bauschutt maximal einen Straßenunterbau machen. Das ist Down-Cycling. Oder aber ich stemme den Mörtel ab und verwende die Ziegel eins zu eins wieder. Dann habe ich einen geschlossenen Kreislauf: Re-Cycling. Klare Definitionen sind extrem wichtig: Was passiert am Nutzungsende mit einem Produkt, wie wird es zurzeit entsorgt, und wie könnte man es im besten Fall wiederverwenden oder wiederverwerten, ohne Qualitätsverlust? 

 

Außerdem brauchen wir ein Zirkularitäts-Material-Label, eine Art Balken-Diagramm auf jedem Baustoff, um ablesen und vergleichen zu können, wie gut er ist: Ist es ein „Closed-Loop“-Material, also recyclingfähig, oder ein „Open-Loop-Material“, nur downcyclingfähig? Besteht es vielleicht schon aus Sekundärbaustoffen, also Altstoffen, und zu welchem Anteil? Und zum Vergleich: Wie viel mehr recyceltes Material könnte darin stecken? Den maximal möglichen Recyclinganteil in einem Baustoff kann man jetzt schon aus Forschungen oder aus Best-Practice-Beispielen entnehmen. So kann man dann vergleichen und die bessere Alternative wählen.

 

„Eine ganze Generation hat gelernt, Müll zu bauen. Und wir sind noch viele.“

 

F!F: In der Projektentwicklung zählen Zeit und Geld. Rechnet es sich auch, den nachhaltigen Weg zu gehen? 

 

Annette Hillebrandt: Nur nachhaltig gebaute Häuser haben für die nachfolgenden Generationen überhaupt einen Wert. Im Moment schauen wir nur auf die Herstellungskosten einer Immobilie. Was damit in 20, 50 oder 80 Jahren ist, wird gar nicht eingepreist. Das ist der grundlegende Fehler. Man muss die Dinge zu Ende denken! Wenn wir das Bauen nicht grundlegend ändern, besteht Deutschland irgendwann nur noch aus Müllhalden.

 

Wenn ich den Rückbau, das Recycling beziehungsweise die Entsorgung beim Bauen mit einpreise, betrachte ich die reellen Kosten der Immobilie. Das würde passieren, wenn man in den Planungen zum Bauantrag den Abfallanteil beim Rückbau kalkulieren müsste. Und die Investor:innen für diese Abfallkosten eine Kaution bei der Gemeinde hinterlegen müssten. Bauherr oder Bauherrin würden also diese End-of-life-Kosten wahrnehmen und zu ihren Architekt:innen sagen: Das ist mir insgesamt zu teuer. Gibt es andere Möglichkeiten? Dann käme das Urban Mining-gerechte Bauen ins Spiel, mit Holz oder Stahl, schadstofffrei, sortenrein, demontabel. 

 

F!F: Grundsätzlich sind das alles keine ganz neuen Erkenntnisse?

 

Annette Hillebrandt: Sicher nicht. Zu meiner Studienzeit gab es einige wenige Professor:innen, die nachhaltiges Bauen gelehrt haben, zum Beispiel, dass man mit Lehm bauen kann. Wir wurden aber eher dazu erzogen, darüber zu lachen. Stattdessen wurde die Mehrheit der Architekt:innen einer Bauindustrie hörig, die sie auf ihre immer neuen Produkte einschwor und diese mit vehementem Druck in das deutsche Normenwerk einbrachte. Am Ende wurden die traditionellen, naturverträglichen Bauweisen verdrängt. Die Kunststoffindustrie hat sich in allen Baustoffen breit gemacht und kontaminiert die Baustoffe. Am Nutzungsende bleibt nur der Totalverlust dieser Baustoffe auf der Deponie oder in der Verbrennung: noch mehr CO2…

 

Eine ganze Generation hat gelernt, Müll zu bauen. Und wir sind noch viele. Archtitekt:innen arbeiten gerne lange, über ihr Rentenalter hinaus. Wenn wir uns alle nicht bewegen, haben wir ein Problem.  

 

F!F: Wie vermittelst du die Nachhaltigkeit in der Lehre? 

 

Annette Hillebrandt: 2010 habe ich eine Materialbibliothek initiiert. Es ging darum, physisch etwa 500 Materialien zusammenzustellen und die Studierenden dazu anzuregen, diese anzufassen, zu spüren. Dann zu überlegen, welche Materialien harmonieren miteinander, warum ist das wohl so? Und in die Datenbank dahinter zu schauen: Wie wird das Material gewonnen? Unter großer Naturzerstörung etwa? Was hat das Material für einen CO2-Rucksack? Ist es recyclingfähig, wiederverwertbar oder Abfall? Wir stellen das Ganze gerade noch mal neu und größer auf. Die Uni Wuppertal wird mit dem Karlsruher Institut für Technologie die „Materialbibliothek deutscher Hochschulen“ an den Start bringen.

 

Im Moment bieten wir mit dem Verein „Architects for Future“ eine Ringvorlesung an, die alle Studierenden in Deutschland hören können, um sich mit Wissen über nachhaltiges Bauen zu versorgen. Außerdem habe ich vor Jahren einen bundesweit offenen Studierenden-Wettbewerb, den „Urban Mining Student Award“ initiiert, in dem es um Bestands-Themen und rückbau- und recyclingfähiges Bauen geht. Und mit unserem neuen Weiterbildungsmaster an der BUW „Nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen“ haben wir ein sensationelles Power-Programm zur Transformation aufgelegt.

 

Gerade bei den Themen Recycling, Reparieren und Pflegen sind besonders Frauen mit wirklicher Überzeugung dabei.“

 

F!F: Täten der Branche deiner Ansicht nach mehr Frauen in Führung gut? 

 

Annette Hillebrandt: Gar keine Frage. Gerade bei den Themen Recycling, Reparieren und Pflegen sind meiner Erfahrung nach besonders Frauen mit wirklicher Überzeugung dabei. Ein anderes wichtiges Thema: Bauleitung muss sich verändern. Bis heute ist es oft so, dass der Bauleiter die Firmen stramm stehen lässt und ihnen erzählt, was sie alles falsch machen. Aber es gibt Frauen in diesen Positionen und die sehen zu, dass die verschiedenen Kulturen auf dem Bau sich gegenseitig wertschätzen und gut zusammenarbeiten. Und die dadurch ein so gutes Klima erzeugen, dass dort gerne gearbeitet wird. Während es auf den hierarchisch geführten Baustellen eher Probleme gibt, zeitgerecht und ohne Konflikte fertig zu werden. Also da sind Frauen beziehungsweise ein anderer Bauleitungsstil überhaupt extrem gefragt.

 

F!F: Seit fast 20 Jahren studieren mehr Frauen Architektur als Männer, ohne dass sich das in Professuren oder Büroleitungen abbildet.

 

Annette Hillebrandt: Deshalb halte ich die Quote für eine wichtige und richtige Sache. So lange wir noch nicht 50 Prozent erreicht haben, machen wir halt Quote. 

 

Ich bin überzeugt, dass das für alle ein besseres Leben bedeutet. Männer – vor allem ältere – sind manchmal in sehr toxischen Rollen und toxischen hierarchischen Strukturen verhaftet. Die meisten jungen Männer erlebe ich glücklicherweise zum Ende des Studiums dagegen als Teamplayer. Sie wollen auch mal Kinder haben und Zeit mit ihnen verbringen.

 

F!F: Warum ist das gemeinsam Bauen so wichtig?

 

Annette Hillebrandt: Wir können nur für die gesamte Gesellschaft bauen, wenn wir uns mit der gesamten Gesellschaft beschäftigen. Dazu gehören ganz kleine, junge Leute, dazu gehören ganz alte Leute und alle dazwischen. Ich brauche also die verschiedenen Blickwinkel.

 

Wenn es überhaupt ein Erfolgsrezept für Architektur gibt, dann besteht es darin, viele Möglichkeiten zu erschaffen, nicht zu determiniert zu bauen. Um eben den nachfolgenden Generationen nicht die Zukunft zu verbauen. Darunter verstehe ich nicht nur die Ressourcen-Schonung und die Senkung des CO2-Abdrucks als Ziel. Ich verstehe darunter auch Gebäude, die wie ein leeres Regal sind, das ab und zu neu befüllt werden kann. Eine flexible Struktur ist viel sinnvoller als eine in Beton gegossene, künstlerische Skulptur, die nur einem für ein paar Jahre dient und dann obsolet ist. 

 

F!F: Dein persönlicher Rat an deinen Berufsstand?

 

Annette Hillebrandt: Man muss diesen Beruf lieben: damit meine ich nicht nur sich in der gestalterischen Rolle, sondern den Blick auf die nachfolgenden Generationen.

 

Und man sollte nicht so viel schauen, was jemand anderes gerade vermeintlich besser macht. Ob jemand mehr Klicks oder Preise bekommt, mehr im Gespräch, in den Medien ist. Denn zu großer Fokus auf Konkurrenz macht schwach und lähmt. Statt sich in diese Wettbewerbs-Situation zu begeben, sollte man das tun, wovon man wirklich überzeugt ist. Nur dann kann man die Kraft entwickeln, auch andere zu überzeugen.

 

 

Das Interview führte Liane Borghardt.