Marie Döscher arbeitet als Juristin und Forensikerin im Bereich „Forensic Services“ bei der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland in Frankfurt am Main. Im Auftrag deutscher Börsenkonzerne und Unternehmen leitet die 35-Jährige mit ihrem Team die internen Untersuchungen bei Fällen von Wirtschaftskriminalität, Compliance-Verstößen sowie Sexismus-, Me-too- und anderen Diskriminierungssachverhalten.
Davor arbeitete Marie Döscher sechs Jahre lang als Staatsanwältin in Nordrhein-Westfalen. Ihr Studium der Rechtswissenschaften absolvierte sie in Marburg.
Mit F!F sprach sie über die Verbreitung und Folgen von Sexismus im Arbeitsalltag und darüber, wie sich Unternehmen, Betroffene, Kollegen und Kolleginnen verhalten sollten und was sie dagegen tun können.
Marie Döscher, Juristin und Forensikerin bei PwC Deutschland in Frankfurt
F!F: Wie beschreibst du als Forensikerin sexistisches Verhalten?
Marie Döscher: Sexismus beschreibt eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts. Das Wort kommt ja aus dem Englischen, wo „sex“ auch Geschlecht bedeutet. Immer geht es dabei um gewisse Dominanzgesten, nicht unbedingt um etwas Sexuelles: Eine Person fühlt sich einer anderen überlegen und bringt dieses vermeintliche Machtgefälle durch Herabwürdigung zum Ausdruck.
F!F: Wie verbreitet ist Sexismus deiner Erfahrung nach im Arbeitsalltag?
Marie Döscher: Auf jeden Fall ist in den letzten zwei Jahren die Anzahl der Fälle, die ich bearbeite und in denen dieses Fehlverhalten Gegenstand ist, erheblich gestiegen. Das muss nicht heißen, dass die Anzahl der Taten steigt – eher das Bewusstsein, dass sexistisches Verhalten nicht in Ordnung ist. Auf der einen Seite fühlen Geschädigte sich ermutigt, sich zu melden. Auf der anderen Seite werden sich Unternehmensleitungen der Risiken und Auswirkungen bewusster, die mit sexistischem Verhalten einhergehen, und möchten, dass diese Fälle aufgeklärt werden.
F!F: In welchen Facetten zeigt Sexismus sich im beruflichen Kontext?
Marie Döscher: Das Feld und das Spektrum sind weit: Es kommt beispielsweise zu sexualisierten Kommentaren, es kommt zu Distanzlosigkeit im Raum. Das heißt, zu enger Körperkontakt wird gesucht, bewusst oder unbewusst. Ein Klassiker ist auch die Verwendung doppeldeutiger Emojis in Chats.
„Fehlverhalten im Realen und im Digitalen geht meist Hand in Hand.“
F!F: Kannst du Beispiele aus deiner Praxis nennen?
Marie Döscher: Sexistische Kommentare müssen nicht unbedingt sexualisiert sein. Ein Beispiel, wenn es um Frauenquoten und Spitzen-Jobs geht: „Also, wenn ich eine Frau mit miesem Abschluss wäre, würde ich mich auf jeden Fall bewerben!“ Das ist sexistisches, herabwürdigendes Verhalten. Es gibt aber auch derbe Sachen und insbesondere Sprüche, die ich schon mitunter als vulgär bezeichnen würde.
F!F: Häufen sich die Vorfälle im digitalen Raum?
Marie Döscher: Fehlverhalten im Realen und im Digitalen geht meist Hand in Hand. Der Name „Chat“ sagt es ja schon: Viele schreiben, wie sie sprechen, oft aus einer Emotion heraus. Ohne über die Wirkung nachzudenken oder darüber, wie permanent das ist, was sie da so hinschreiben. Als Emojis werden dann zum Beispiel schnell mal Herzchen verschickt statt des Daumen-hoch. Wie man angemessen Wertschätzung und Lob ausdrückt, hängt aber immer vom Kontext ab: Wer sendet das an wen? Befindet man sich auf demselben Level? Oder schickt es der Chef an die Praktikantin? Der Business-Kontext, das Verhältnis und die Erniedrigung bleiben dieselben – auch wenn ich das Medium wechsele und chatte! Ich kann auch hier nur zu Klasse statt Masse raten. Man muss nicht mitmischen, wenn Kollegen ihre Kolleginnen im Chat nach sexueller Attraktivität bewerten. Das erleben wir auch.
F!F: Glücklicherweise ist das erst mal nicht sichtbar für die Betroffenen.
Marie Döscher: Wenn A an B schreibt, ist es illusorisch, zu glauben, dass es in diesem Feld bleibt. In der Regel entsteht ein Schneeballsystem, es zirkuliert, und dann kommt das Ganze meist irgendwann auch an Stellen oder Personen, die sagen: „Stopp, das ist nicht in Ordnung!“
F!F: Manche haben aber vielleicht auch im Ohr: „War nicht so gemeint, hab dich nicht so…“
Marie Döscher: Es gibt Sprüche und Sprüche. Obszönitäten und vulgäres Wording beispielsweise entsprechen nicht dem Kommunikationsstil, den ich mir für mein Unternehmen wünschen würde. Irgendwo ist eine Grenze erreicht – möglicherweise ist die auch niedrig.
„Wir sprechen hier nicht von Kavaliersdelikten.“
F!F: Sexistisches Verhalten ist nicht unbedingt strafrechtlich relevant?
Marie Döscher: Richtig. Wenn es um Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht, dann bewegen wir uns im strafrechtlichen Bereich. Diese Themen sollten auf jeden Fall nicht nur im Unternehmen aufgearbeitet, sondern auch den Ermittlungsbehörden zur Kenntnis gebracht werden. Da gehört noch mal eine andere Ahndungsqualität dazu.
F!F: Das heißt, du trittst in Unternehmen nicht als Anklägerin auf?
Marie Döscher: Das ist der wesentliche Unterschied zu meiner früheren Tätigkeit als Staatsanwältin. Ich bin heute nicht mehr Anklägerin. Ich trete nicht als Rechtsberaterin auf, sondern als Forensikerin. Wir ermitteln die Fakten: Was ist wo, wann passiert? Warum und mit welcher Beteiligung?
F!F: Was ist das Ziel eurer Ermittlungen?
Marie Döscher: Die meisten Geschädigten suchen eine Art Genugtuung und nicht, dass jemand eine behördliche veranlasste Strafzahlung leistet. Das ist nicht das, was am Ende intendiert ist. Ich glaube, dass wir hier einen wesentlichen Beitrag leisten, indem wir diese Fälle aufarbeiten. Das bringt für die Betroffenen und alle Involvierten die Bedeutung der Sache zum Ausdruck. Das ist auch das Feedback, das ich von Unternehmensleitungen bekomme: Es ist wichtig, den Beschuldigten vor Augen zu führen: Wir sprechen hier nicht von Kavaliersdelikten. Nur weil etwas nicht strafrechtlich geahndet werden kann, heißt das nicht, dass wir ein solches Verhalten akzeptieren möchten.
F!F: …oder sagen: Dieses Problem unter Kollegen und Kolleginnen geht uns nichts an?
Marie Döscher: Unternehmen haben ja eine Fürsorgepflicht gegenüber allen Mitarbeitenden. Sowohl gegenüber potenziell Geschädigten als auch gegenüber Beschuldigten. Immer gilt auch hier die Unschuldsvermutung. Wenn ein Hinweis eingeht, ist es wichtig, eine ordentliche Untersuchung objektiv und im vertraulichen Rahmen durchzuführen. Um allen gerecht zu werden.
„Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt ist die Dunkelziffer bei Me-too-Fällen sehr hoch.“
F!F: Nach einer Studie vom Bundesfamilienministerium werden Frauen häufiger diskriminiert als Männer, homosexuelle Männer häufiger als heterosexuelle. Entspricht das deiner Erfahrung?
Marie Döscher: Was die Häufigkeit angeht, sicherlich ja. Aber betroffen sind durchgängig alle Geschlechter. Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt ist die Dunkelziffer bei Me-too-Fällen sehr hoch. Aus Angst vor Reputationsverlust oder aufgrund der hierarchischen Stellung der verursachenden Person melden Betroffene sich oft nicht. Besonders Männer – vermutlich, weil man ihnen das als Zeichen von Schwäche auslegen könnte. Das heißt nicht, dass sie nicht auch betroffen sind.
F!F: Gibt es Branchen oder Unternehmenskulturen, die sexistisches Verhalten begünstigen?
Marie Döscher: Erfahrungsgemäß passiert das branchenübergreifend, in keiner spezifischen Branche besonders häufig. Entscheidend sind der „tone from the top“, Vorbilder, die Unternehmenskultur. Welche Werte haben wir unserem Unternehmen gegeben, zum Beispiel eine wertschätzende Kommunikation? Wie viel Budget stellen wir für gewisse Rollen und Funktionen zur Verfügung? Wie präsent ist etwa das Thema Diversität?
F!F: Plädierst du auch vor diesem Hintergrund für gemischte Führungsetagen?
Marie Döscher: Absolut. Wenn man sich immer nur mit seinesgleichen umgibt, ist man weniger sensibel für die Befindlichkeiten derer, die sich außerhalb der eigenen Blase befinden. Das kann man den Leuten erst mal gar nicht zum Vorwurf machen.
Mir geht es darum, zu sagen: Denkt doch mal darüber nach, wie euer Verhalten möglicherweise auf Andere wirkt. Wenn der Schritt getan ist, ist schon viel passiert. Wir werden ja meistens vom männlichen C-Level beauftragt, das heißt Geschäftsführung, Vorstand oder Aufsichtsrat. Das ist positiv: Hier wurde erkannt, dass man etwas tun muss.
„Eine Unternehmenskultur, die diskriminierendes, sexistisches Verhalten begünstigt, begünstigt auch anderes Fehlverhalten.“
F!F: Totschweigen und Aussitzen funktionieren nicht?
Marie Döscher: Nein. Solche Vorfälle ereignen sich meistens in einer Gesamt-Gemengelage – Thema toxische Unternehmenskultur. Eine Unternehmenskultur, die diskriminierendes, sexistisches Verhalten begünstigt, begünstigt auch anderes Fehlverhalten.
F!F: Dann ist die moralische Frage zugleich eine wirtschaftliche?
Marie Döscher: Eindeutig ja. Solche Vorfälle sprechen sich natürlich herum, es kommt zu Fluktuation bei den Mitarbeitenden und zu Problemen, neue zu finden. Letztlich wirkt sich das auf die Performance des Unternehmens aus: Die Motivation lässt nach, die Qualität lässt nach.
F!F: Wie sehen die einzelnen Schritte eurer Ermittlungen aus?
Marie Döscher: Also uns rufen, wie gesagt, in der Regel Unternehmensleitung oder Aufsichtsrat an, nachdem ein Hinweis auf potenzielle Verstöße eingegangen ist. Wir schauen uns an, wie plausibel das ist und sprechen dann ab: Was ist das Ausmaß unserer Investigation? Welche Ermittlungshandlungen führen wir durch? Besonders in Me-too-Fällen sind Interviews die wichtigsten Erkenntnisquellen, insbesondere auch, weil man im Gespräch die Reaktion der Menschen sieht. Zum zweiten E-Mails und Chat-Nachrichten. Gegebenenfalls machen wir zusätzlich noch ein Social Media-Screening. Wenn es schriftliche Kommunikation gibt, fangen wir damit an, um bestmöglich vorbereitet in die Interviews zu gehen. Zuerst sprechen wir mit der Hinweis gebenden Person, also mit einem Zeugen oder der geschädigten Person selbst. Dann mit den anderen involvierten Personen. Erst wenn wir alle Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, sprechen wir mit der beschuldigten Person, um Aussagen kritisch in alle Richtungen würdigen zu können.
„Woran hat es gelegen? Was sind mögliche Schwachstellen in der Organisation?“
F!F: Kommt es vor, dass Beschuldigte sagen: Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts?
Marie Döscher: Es steht ihnen frei, inwieweit sie einen Rechtsbeistand hinzuziehen, jemanden vom Betriebsrat, Personalrat oder eine Vertrauensperson mit in das Gespräch bringen.
F!F: Vermutlich sind alle Beteiligten in dieser Situation sehr nervös.
Marie Döscher: Das ist so. Deswegen ist es wichtig, wirklich nur die Betroffenen einzubinden. Die Unterstützung von Externen empfiehlt sich in diesen Fällen auch, weil sie die Expertise und die Kapazitäten haben, die Ermittlungen zügig durchzuführen.
F!F: Womit schließen eure Untersuchungen?
Marie Döscher: Wir sammeln die Fakten ein, um eine Chronologie der Ereignisse erstellen zu können. Am Ende schreiben wir einen forensischen Bericht, in dem wir auch zeigen: Woran hat es gelegen? Was sind mögliche Schwachstellen in der Organisation? Um dann auch Handlungsempfehlungen aussprechen zu können. Es geht ja auf der einen Seite darum, den Vorfall aufzuklären. Auf der anderen Seite darum, die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen ähnlich gelagerten Fall in der Zukunft zu minimieren. Zum Beispiel, indem man gemeinsam einen Verhaltenskodex erarbeitet: Welche Werte haben wir im Unternehmen? Welche Trainings brauchen wir? Das ist mannigfaltig und hängt vom Einzelfall ab.
„Transparenz sorgt für Glaubwürdigkeit.“
F!F: Was sollten Unternehmen tun, wenn sich sexistisches Verhalten öffentlich abgespielt hat?
Marie Döscher: Das Wichtigste ist, dass der Vorfall intern zwischen den beteiligten Personen oder Personengruppen geklärt wird, weil das Verhältnis zwischen ihnen belastet ist. Wenn der Vorfall von einem Kollegen, einer Kollegin oder gar einer Führungskraft ausgegangen ist, muss man sehen, inwieweit eine Zusammenarbeit in Zukunft noch möglich ist oder beendet werden sollte. Die interne Aufarbeitung ist sehr wichtig. Wenn sich ein Vorfall in der Öffentlichkeit ereignet hat, sollte das Unternehmen kommunizieren, was es unternommen hat, um dem nachzugehen. Dass man dieses Verhalten als falsch erkannt hat und sich ehrlich mit dieser Thematik beschäftigt, um Ähnliches in Zukunft zu vermeiden. Transparenz sorgt für Glaubwürdigkeit.
F!F: Wie reagieren Betroffene am besten auf einen diskriminierenden Spruch vor Publikum?
Marie Döscher: Ich würde nicht empfehlen, direkt in den Schlagabtausch zu gehen – möglicherweise ist man von Emotionen überwältigt. Besser ist, das erstmal so stehen zu lassen und weiter zu machen. Und dann zu einem späteren Zeit den Austausch bilateral suchen. Es geht darum, der anderen Person zu spiegeln, wie man sich selbst in der Situation gefühlt hat. In einem geschützteren Rahmen wird sie dafür auch zugänglicher sein.
F!F: An wen kann man sich wenden, wenn man nicht in den direkten Austausch gehen möchte?
Marie Döscher: Das müssen nicht zwangsläufig die Vorgesetzten sein. Oft gibt es auch im Personalbereich Vertrauenspersonen oder Ethik-Offices, an die man sich wenden kann. Vielleicht möchte man auch eher zu einer Person gehen, die man gut kennt. Wichtig ist, es nicht mit sich alleine auszumachen: Sprich es an! Sprecht mehr miteinander als übereinander! Das kann bilateral, das kann im Sechs-Augen-Gespräch sein. In vielen Fällen ist sich der Sender der Nachricht nicht über die Auswirkungen seiner Message bewusst. Wenn ich das nicht spiegele, habe ich eine Chance vertan, eine Bewusstseinsänderung hervorzurufen.
F!F: Wehret den Anfängen, trotz eigener Unsicherheiten?
Marie Döscher: Wenn man unsicher ist, kann man die Situation einfach mal einer Vertrauensperson faktenbasiert schildern. Aber schon allein, dass man sich unwohl gefühlt hat in einer bestimmten Situation, zeigt, dass da etwas nicht in Ordnung war! Das ist Anlass genug, einen Vorfall anzusprechen.
Das Interview führte Liane Borghardt.
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