Karin Hartmann

Dipl.-Ing. Architektin BDA und Autorin „schwarzer Rolli, Hornbrille“

„Wir sind lange davon ausgegangen, dass der Planer sich in alle Lebensperspektiven reinversetzen kann“

Karin Hartmann studierte in den 1990er Jahren Architektur in Dresden. Sie war viele Jahre als Architektin selbstständig mit dem Schwerpunkt auf Wettbewerbsbetreuung in Dresden und Paderborn. Später war sie Referentin für Baukultur im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung sowie Projektleiterin bei Baukultur NRW. Heute arbeitet Karin als Architektin und Autorin und forscht und schreibt vor allem zu Baukultur und Architektur aus intersektional-feministischer Perspektive. Karin ist Vorsitzende des Netzwerks architektinnen initiative nordrhein-westfalen (ainw) und lebt in Bonn. 

 

In ihrem Buch „Schwarzer Rolli, Hornbrille“ geht die Autorin diesem Phänomen nach: Seit rund zwei Jahrzehnten ist die Mehrheit der Absolvent:innen in der Architektur weiblich. Doch später kehren viele Frauen dem Beruf den Rücken. Es bleibt, vor allem in Entscheidungspositionen, „der graumelierte Mann mit der Hornbrille“. 

Karin Hartmann, Dipl.-Ing. Architektin BDA und Autorin "Schwarzer Rolli, Hornbrille", Foto ©: Till Budde


Mit F!F sprach die Mutter von drei Söhnen über die Macht von Glaubenssätzen in Ausbildung und Arbeitsleben sowie über mögliche Stellschrauben. Für mehr Chancengerechtigkeit, mehr Lebensqualität, auch in Städten.   

 

F!F: In deinem Buch schreibst du, dass eine vorwiegend männliche Sicht in Architektur und Stadtplanung spürbare Leerstellen hinterlässt. Wo zum Beispiel? 

 

Karin Hartmann: Im Moment ist die Planung von einer Bevölkerungsgruppe dominiert: weißen Männern,Alter 50 plus, westliche Denkweise. Einige Perspektiven sind nicht mitgedacht. Das fällt beispielsweise auf, wenn man selbst Fürsorgearbeit macht – ein Kind dabei hat oder eine ältere Person betreut, einige Sachen trägt und versucht, durch die Stadt zu kommen. Da stößt man schnell an Grenzen. In der Barrierefreiheit als auch in Wegeketten, die nicht linear mit einer Hin- und einer Rückfahrt verlaufen.

 

F!F: Bedürfnisse von Familien, Kindern oder Älteren wurden nicht ausreichend berücksichtigt?

 

Karin Hartmann: Ja, zum Beispiel in der Gestaltung öffentlicher Räume. Hier in Bonn ist bei mir um die Ecke ein toller neuer Platz entstanden, aber es gibt viel zu wenige Sitzgelegenheiten. Auf der großen Liegewiese stehen Eltern neben ihren Kinderwagen. Oder als ältere Person möchtest oder kannst du dich vielleicht nicht mehr auf die Liegewiese setzen. Es gibt eine Erweiterung an Möglichkeiten durch diesen neuen Platz – aber eben nicht für alle.

 

F!F: Du stellst in deinem Buch einen Zusammenhang zwischen vernachlässigter „Care“, auch verstanden als Fürsorge für die gebaute Umwelt, und dem Klimawandel her. Kannst du das erklären?

 

Karin Hartmann: Ich beziehe mich da im Wesentlichen auf bestehende Forschungsergebnisse. Die österreichische Stadtforscherin und Kulturtheoretikerin Elke Krasny zum Beispiel hat erforscht, wie das Berufsbild des Architekten mit männlich beziehungsweise weiblich gelesenen Eigenschaften zusammenhängt: In der Genese des Architektenberufs wurden männlich gelesene  Aspekte bevorzugt und weibliche eher abgespalten. Daraus hat sich bis heute – immer noch orientiert an der klassischen Moderne – eine Entwurfshaltung entwickelt, die sagt: Was ich entwerfe ist gut, besser als das Bestehende. Und: Ich entwerfe auf der grünen Wiese. Kontext spielt nur zweitranging eine Rolle. 

 

Dafür gibt es auch andere Indizien, etwa in der Lehre: Entwurfslehrstühle sind die wesentlichen Lehrstühle, die eine Universität ausmachen. Weniger die Denkmalpflege zum Beispiel. Bauen im Bestand ist in der Lehre immer noch eine untergeordnete Aufgabe.

 

„Insgesamt wünsche ich mir mehr Vielfalt, diversere Teams. Ich glaube, dass wird automatisch dazu führen, dass sich der Beruf verändert.“

 

F!F: Sich selbst ein Denkmal setzen gilt als erstrebenswerter? 

 

Karin Hartmann: Ja, das von Jane Darke geschriebene „Our cities are patriarchy written in stone, brick, glass and concrete…“ bedeutet genau das: Die Perspektive des Planers – in diesem Falle bewusst nicht gegendert, weil es statistisch so ist – herrscht vor und so sieht unsere gebaute Umwelt auch aus. Wir haben eine patriarchalische Struktur, und in der Kunst, der Architektur, der gebauten Umwelt schlägt sich dies nieder und ist lange sichtbar. 

 

F!F: Damit stellt sich die Frage: Entwerfen Frauen anders als Männer?

 

Karin Hartmann: Ich glaube, es ist eher eine Frage der Lebensrealität. Wenn ich bestimmte Erfahrungen mache, bringe ich die natürlich in die Planung mit ein. Wir sind lange davon ausgegangen, dass der Planer sich in alle Lebensperspektiven reinversetzen kann. Das kann er aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Und dass etwas fehlt, sehen wir jetzt. 

 

F!F: Welche Arbeitsstile würdest du den oft gleichen Entwürfen entgegensetzen?

 

Karin Hartmann: Ich finde die aktuelle Entwicklung gut: Es geht öfter darum, im Kollektiv zu arbeiten, auf Augenhöhe zu arbeiten, es gründen sich viele Frauen-Büros. Und diejenigen, die es gibt, sind sehr „en vogue“. 

 

Insgesamt wünsche ich mir mehr Vielfalt, diversere Teams. Ich glaube, dass wird automatisch dazu führen, dass sich der Beruf verändert. Dass sich Ergebnisse verändern. Und dass sich auch die Lehre verändern kann, die sehr stark von der Praxis geprägt ist. In Deutschland und auch international.

 

„Uns ist stark vermittelt worden: Sehr viel arbeiten, die Nächte durchmachen, das gehört in der Architektur dazu!“

 

F!F: Es gibt hierzulande mehr gut ausgebildete Architektur-Absolventinnen als Absolventen, die aber später vielfach in alternative Berufe abwandern. Was war für dich Auslöser, dem nachzugehen?

 

Karin Hartmann: Für mich gab es mehrere Auslöser. Ich bin früh feministisch geprägt worden, durch eine nahe Verwandte. Ich habe das aber nicht mit dem Thema Architektur und meinem Beruf in Verbindung gebracht. Ich habe diese strukturellen Ursachen nicht schnell erkannt. Aber dann kam die Corona-Pandemie, wo sich gezeigt hat: Gleichberechtigung wird nicht einfach linear verfolgt, bis sie vollendet ist. Sondern: Es gibt eine Krise, und dann gibt es einen Rückschritt. Das hat mich erschüttert. Mit diesem Rückfall in alte Rollenmuster hatte ich nicht gerechnet. 

 

Der andere Auslöser war: Ich habe eine junge Frau in der Familie, die auch Architektur studiert. Was sie teilweise erlebt, wie ihre Arbeit kommentiert wird, auch im Unterschied zur Arbeit von jungen Männern: Das hat mich verstört. Ich habe in den 1990er Jahren studiert, und es sind immer noch ähnliche Sprüche. 

 

Parallel hat sich in der gesellschaftlichen Debatte viel getan. Da habe ich gedacht: Ich versuche mal, diese losen Enden zusammen zu binden und ein holistisches Bild zu schaffen, wo liegen Ursachen, was sind Auswirkungen, und was können wir tun?

 

F!F: Gab es in deinem Studium in Dresden auch Professorinnen oder vor allem den Professor? 

 

Karin Hartmann: Soweit ich mich erinnern kann, gab es keine Professorin. Es gab aus DDR-Zeiten sogenannte Oberassistentinnen. Und viele Frauen arbeiteten im Mittelbau, wie heute. Mir ist lange nicht aufgefallen, dass Frauen nicht in den Entscheidungspositionen saßen. Das ist aber natürlich wesentlich fürs Ganze! Und dieses Meister-Schüler-Lernen, das ich im Buch anspreche, ist sehr verbreitet gewesen.

 

F!F: Du schreibst, dass Weichen fürs Berufsleben wie die Bewunderung des männlichen „Genius“ und Selbstausbeutung im Studium gestellt werden. Wie hast du das erlebt?

 

Karin Hartmann: Uns ist stark vermittelt worden: Sehr viel arbeiten, die Nächte durchmachen, das gehört in der Architektur dazu! Das höre ich heute noch, wenn ich an Hochschulen bin und mit Studierenden spreche. Es herrscht das Narrativ: Anders geht es nicht.

 

Wenn du immer wieder hörst: Du musst da mehr Zeit reinstecken, probiere doch mal das hier…Dann erarbeitest du eine Woche lang eine Alternative, die wird für schlecht befunden, die Woche war umsonst – na ja, was gelernt.

 

Das sind Dinge, die prägen, die führen zu Gruppenzwang und Wettbewerb. Um irgendwann selbst in der Position zu sein, die Ansagen zu machen. Das ist auch Teil dieser Meister-Schüler-Konstellation.

 

„Teilzeit für eine Professur ist im Büro kein Problem. Aber wehe, du hast zwei kleine Kinder und arbeitest genauso viel wie ein Professor – das ist ein Problem.“

 

F!F: Wie müssten aus deiner Sicht Berufungsverfahren angepasst werden, um mehr Professorinnen zu gewinnen? Aktuell sind nur 28 Prozent der Architektur-Lehrstühle von Frauen besetzt.

 

Karin Hartmann: Das ist ein nahe liegendes Mittel: Zu prüfen, was sind die Kriterien, um eine Professur zu erhalten? Ist sie für alle gleich erreichbar? Für Frauen mit kleinen Kindern, für Väter mit Care-Verantwortung? Oder wird eine bestimmte Gruppe bevorzugt? Welche Rolle spielen zum Beispiel auch geschlechtsspezifische Eigenschaften? Was ist mit Self-Branding, geht es um eine bestimmte Anzahl von gebauten Werken? 

 

Ich höre auch immer wieder, dass Frauen Stellen mit der Begründung ablehnen: Das kann ich mir im Moment nicht vorstellen. Da muss man fragen: Warum nicht? Was wären Bedingungen, unter denen du es dir vorstellen könntest? Um dies in den Verfahren abzubilden.

 

F!F: Wer kein Büro leitet, keine Preise gewinnt und so weiter bekommt auch keinen Ruf? 

 

Karin Hartmann: Genau, das geht Hand in Hand. Das ist in der Architektur speziell so, weil Entwurfslehrstühle aus der Praxis besetzt werden. Das heißt, jemand nimmt eine Vollzeit-Professur in Anspruch, die er Dienstag, Mittwoch, Donnerstag belegt, weil er montags und freitags im Büro ist, am anderen Ende des Landes. Ist das eigentlich in Ordnung, würde ich mal fragen? 

 

Und auch dieser doppelte Boden: Teilzeit für eine Professur ist im Büro kein Problem. Aber wehe, du hast zwei kleine Kinder und arbeitest Teilzeit – das ist ein Problem. 

 

Also muss man auch da noch mal schauen: Wie hängt das eigentlich zusammen, und ist das wirklich gut für die Lehre? Oder brauchen wir vielleicht Leute, die nicht parallel ein Büro leiten?

 

Viele Aspekte aus der Wissenschaft, die die Didaktik besprechen, kommen in der Lehre gar nicht an. Ich halte das schlicht für einen Zeitfaktor: Man muss sich einlesen, die Debatte kennen, den Überblick bekommen. Wenn jemand aus der Praxis einen Lehrstuhl belegt, wann soll er das machen? Das ist aber ein ganz wichtiger Aspekt, und seit Jahrzehnten gibt es fachwissenschaftliche Forschung, die zu wenig in der Lehre berücksichtigt wird.

 

F!F: Du nennst es die „Soll-Bruchstelle“ Mutterschaft im Job. Welche Ursachen siehst du in der Architektur neben gesellschaftlich-strukturellen?

 

Karin Hartmann: Die Glaubenssätze in der Architektur, die durch die Annahme geprägt sind: Architektur ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Das bedeutet eine Vollzeitverfügbarkeit 24/7. „Unterm Schreibtisch schlafen“ ist ein gängiger Begriff für junge Architekt:innen. Architektur geht nicht in Teilzeit. Architektur kann man nur voll und ganz machen – oder gar nicht… Man ahnt als Frau, dass das mit Kindern nicht funktionieren wird. Deswegen suchen viele schon vorher etwas Anderes, das vereinbarer ist. 

 

Als Mutter und Architektin habe ich ein doppeltes Problem: Das Mutterbild ist in Deutschland stark mit einer Berufung verbunden. Es ist holzschnittartig vorgegeben, wie man sich da zu verausgaben hat. Und das habe ich in der Architektur auch. Zwei Anforderungen also, die nicht zu erfüllen sind. Nie kann man zu dem graumelierten Mann mit der Hornbrille aufschließen, der immer ernster genommen wird.

 

„Auszeichnungen schreiben Frauen in die Architektur-Geschichte.“

 

Weniger weibliche Konkurrenz spielt der Karriere von Männern zu: Mehr als die Hälfte der Architektinnen arbeitet in weisungsgebundenen Positionen. Unter den männlichen Kollegen nur jeder vierte. Auch wenn Männer bevorzugt werden, und gute Frauen teils durchschnittliche Männer, die zehn, zwanzig Jahre jünger sind, zum Chef bekommen – der Preis ist für Männer in der Architektur extrem hoch. Was heißt denn 24/7? Das heißt, du hast kein (Sozial-)Leben, du kannst keine guten Freundschaften pflegen. Die Scheidungsrate liegt vielleicht höher. Du siehst deine Kinder kaum. Die Architektur schluckt dein Leben. Das ist eine regelrechte Askese, in die Männer sich da begeben. Um irgendeinem imaginären Vorbild zu entsprechen. 

 

Da ist die Frage: Ist es das wert? Ist es das, was mich ausmacht als Mensch? Ich finde, da ist noch mehr drin. Auch mit Blick auf gleichberechtigte Partnerschaften, moderne Lebensentwürfe einer pluralistischen Gesellschaft.

 

Also: Ich glaube, dass man Männer als Verbündete suchen sollte und auch finden wird. 

 

F!F: Du kritisierst, dass die tradierten Wettbewerbsverfahren in der Architektur eher Ungleichheiten verschärfen, statt für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Warum?

 

Karin Hartmann: Das selbstausbeuterische Arbeiten ist auch impliziert in dieser Wettbewerbskultur: Wer kann denn an den Wettbewerben teilnehmen? Wer kann sechs Wochen nonstop an einem Entwurf arbeiten, für den man nicht honoriert wird? Allenfalls durch ein Preisgeld, das nur einen Bruchteil abbildet. Da sind wir wieder in der gleichen Diskussion: Das ist nur für einige Personen machbar, für viele andere nicht. 

 

F!F: Wären alternative Preise sinnvoll?

 

Karin Hartmann: Ja, Auszeichnungen schreiben Frauen in die Architektur-Geschichte. Auch als Rollen-Vorbild werden sie dadurch sichtbar. 

 

Da tut sich im Moment eine Menge. In Deutschland hat zum Beispiel der Verein „Diversity in Architecture“ einen internationalen Frauen-Preis aufgelegt, der kürzlich verliehen und in Venedig gefeiert wurde. 

 

Auch das professionelle Vernetzen unter Frauen halte ich für einen guten Weg, um Projekte zu schmieden, sich immer wieder auszutauschen. Wie geht es mir in meiner Situation, wie machen es andere? Unter Frauen redet man noch mal anders als in einem gemischten Netzwerk. 

 

F!F: Wir sind mit der Frage nach Leerstellen in der Stadtplanung eingestiegen. In welchen Großstädten siehst du vorbildliche Initiativen?

 

Karin Hartmann: Allen voran in Wien, in Europa dieWiege des Gender-Planning. Besonders bereitet durch Eva Kail, die dort sehr lange aktiv ist. Wien ist nicht umsonst so attraktiv: breitere Gehwege, ganz viele Grünflächen oder kleine Oasen wie Pocket Parks. Da werden verschiedene Lebensrealitäten spürbar.

 

Oder in New York, wo Janette Sadik-Khan im Verkehrsministerium maßgeblich dafür gesorgt hat, dass zentrale Straßen wie der Broadway oder der Times Square für Autos gesperrt wurden. Lange hieß es, das geht nicht. Das sind jetzt die attraktivsten Flächen. Da, wo man mitten in New York auf der Straße Yoga macht. 

 

Oder die autofreien Wohnblocks in Barcelona mit viel Grün, die Superblocks. Zu nennen ist natürlich auch der Planer Jan Gehl aus Kopenhagen, der das Augenmerk stark auf Fußgängerinnen und Fußgänger richtet.

 

F!F: Mehr davon, für alle. Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Liane Borghardt.